Kinder brauchen Märchen - Warum eigentlich?
Anna Speer - Kunsttherapeutin und Pädagogin
Viele von uns sind mit Märchen aufgewachsen. Ich selbst erinnere mich noch genau an das Aussehen des dicken grau-blauen Buches mit den Grimm´schen Märchen, aus dem meine Mutter meinen Geschwistern und mir vorlas, und an die Umgebung, in der das geschah, so gut wie immer am großen Eßzimmertisch, wir Kinder auf der hölzernen Eckbank sitzend.
Die Grimm´schen Märchen wurden in viele andere Sprachen übersetzt. Sie sind im Ausland sehr bekannt, gehören nicht selten auch dort zum Literaturschatz der Kinder und werden als deutsches Kulturgut erkannt und anerkannt (vergleichbar der Bedeutung , die etwa Shakespeare für die Briten oder die Cervantes für die Spanier spielt).
Was bieten uns die Märchen heute? In schöner Sprachmelodie werden menschliche Entwicklungen dargestellt, Entwicklungen, die in allgemeingültiger Form die Verwirklichung zum individuellen Menschen zeigen. Wie werde ich ich selbst - das ist das große Thema der Märchen - wie meistere ich Aufgaben und Herausforderungen, wie überwinde ich das Böse, wie wachse ich? Oft sind die "Protagonisten" Königssöhne oder Prinzessinnen, deren vornehme Herkunft aus ihnen noch nicht automatisch Könige und Königinnen macht, sondern die niedrige Arbeiten verrichten müssen ( Aschenputtel und Allerleihrauh z.B. die Hausarbeit, der Königssohn im "Treuen Johannes"tritt als Kaufmann auf), um auch innerlich Stärke und Führungskraft zu erringen. Viele Helden müssen die gegensätzlichen Seiten in sich vereinen, um "ganz" zu werden. Als ganze Menschen können sie dann auch die Verbindung mit ihrer oder ihrem Liebsten eingehen.
Uns Erwachsenen können Märchen so Stütze auf unserem eigenen Weg sein, uns immer wieder Mut machen und uns an die vielen Möglichkeiten und Gelegenheiten erinnern, "aus Stroh Gold zu spinnen".
Beim Erzählen oder Vorlesen des Märchens stehen wir mit dem Kind in einem Dialog: das Kind wird angesprochen, es hört die Geschichte von einem leibhaftigen, oft vertrauten Menschen, die Erzählung ist live. Die Aufmerksamkeit des Erzählenden ist ganz auf das Märchen konzentriert, und diese Aufmerksamkeit, dieses In-der-Gegenwart-Sein übermittelt sich dem Kind. Meinem vierjährigen Enkel habe ich vor kurzem auf einer längeren Autofahrt ein Märchen erzählt. Den Inhalt konnte er mit Sicherheit noch nicht in jedem Detail verstehen, aber er war die ganze Zeit über "ganz Ohr", die Stimmung und das Engagement des Erwachsenen haben ihn in Bann gehalten.
Im Märchen siegt immer das Gute - diese Wahrheit ist sprichwörtlich geworden.Die Wagnisse und Prüfungen auf dem Weg dahin sind manchmal mit "drastischen" Begleiterscheinungen verbunden.
Im "Treuen Johannes" wird der vertrauensvolle Diener seines Königs zu Stein, als er diesen durch eine unverständliche , nach außen ehrenrührige Tat schützt. Etwas später im Märchen enthauptet der König seine beiden Söhne, weil er auf diese Weise sein Unrecht wieder gut machen und dem treuen Johannes das Leben zurück geben kann. Diese Grausamkeit bleibt aber nicht so stehen; der treue Johannes, gerade neu zum Leben erweckt, kann wiederum die Kinder lebendig machen.
Im Märchen sind solche gewaltsamen Aktionen gut in die Gesamtgeschichte eingebettet und dienen häufig als Ausgangspunkt für Verwandlungen. Durch die Darbietungsart eines Märchens , nämlich beim Erzählen oder Vorlesen, werden nicht fertige "Photos" erzeugt, die das Kind nur konfrontieren und in einen Zwang der Anschauung drängen, sondern die Bilder sind eben prozesshaft. Bestrafung, wie z.B. bei "Drei Männlein im Walde" befrieden das kindliche Verlangen nach Gerechtigkeit und den Wunsch, das Gute möge sich durchsetzten. Deswegen hat die vermeintliche Grausamkeit im Märchen einen grundsätzlich anderen Charakter als in anderen Medien.